Zurück an die Schiene

Bis in die 1920er Jahre hinein war die Eisenbahn die Treiberin der Schweizer Wohnbauplanung. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg büsste die Anbindung an den öffentlichen Verkehr bei der Planung von Neubauprojekten an Bedeutung ein. Jetzt zeichnet sich eine Umkehr ab.

Wir werden immer mobiler. Ging vor 50 Jahren ein Stellenwechsel häufig automatisch mit einem Ortswechsel für die ganze Familie einher, so wird heute einfach gependelt. Selbst der Traum vom Erwerbsleben in einem urbanen Zentrum bei gleichzeitiger Wohnsitznahme im Tessin oder in den Bergen muss inzwischen nicht unerfüllt bleiben. Denn der laufende Ausbau des öffentlichen Verkehrs lässt örtliche Distanzen zeitlich schrumpfen, andererseits sorgt er dafür, dass ganze Quartiere sich morgens leeren und abends wieder füllen. Müssig, darüber zu diskutieren, ob das Pendlerdasein sinnvoll und die Folgen davon für Mensch und Markt gesund sind – Mobilität ist eine Tatsache und stellt auch die Bau- und Immobilienbranche vor grosse Herausforderungen.

Der öffentliche Verkehr als Projekttreiber

Eine zentrale Rolle in der Planung von Bauprojekten spielt nebst der sinnvollen Durchmischung deshalb auch die Anbindung an den öffentlichen Verkehr. «Bis zum Zweiten Weltkrieg gingen Wohnungs- und Eisenbahnbau praktisch Hand in Hand, der öffentliche Verkehr war neben den eigenen Füssen das wichtigste Fortbewegungsmittel», sagt Paul Schneeberger. «Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg stieg dann auf ein eigenes Auto um, wer es sich leisten konnte. Die Nähe zum nächsten Bahnhof spielte bei der Wahl des Wohnorts keine übergeordnete Rolle mehr.» Schneeberger geht dem Zusammenspiel von Siedlungsräumen und Verkehrswegen seit Jahren auf den Grund. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Ein Plan für die Bahn» plädiert er dafür, die Schienenwege bei der Siedlungsentwicklung wieder vermehrt und ganz bewusst als Orientierungshilfe heranzuziehen. «Menschen, die näher beim Bahnhof wohnen, benützen logischerweise auch eher die Eisenbahn», so Schneeberger.

Klingt natürlich einleuchtend. Hat aber auch einen Haken. Denn die Affinität zum ÖV ist a) regional unterschiedlich ausgeprägt und hat b) nur im Zusammenhang mit dem Zurücklegen des Arbeitswegs Gültigkeit – denn geht es ums Einkaufen oder um Freizeitaktivitäten, dann wird anstelle des öffentlichen Verkehrs doch lieber das eigene Auto benützt. «Genau diese Tatsache muss uns zu einem Umdenken bei der Siedlungs- und Quartiergestaltung bewegen», so Schneeberger. Weshalb, so sein Gedanke, liegen Sportanlagen beispielsweise immer ausserhalb der Zentren? «Wir bauen, wie wir schon immer gebaut haben. In Zukunft werden wir uns indes vermehrt fragen müssen, welche Rolle und Funktion eine Überbauung, ein Quartier, vielleicht sogar eine ganze Ortschaft ganz genau einnehmen soll.»

Das Mittelland rückt zusammen

Wir stehen beim Bahnhof Burgdorf. Nahe der Gleise erstreckt sich das Areal Suttergut, auf dem bis vor zehn Jahren die Maschinenfabrik Aebi ihr Domizil hatte. In naher Zukunft will die Alfred Müller AG hier eine Überbauung mit insgesamt 40’000 Quadratmetern Geschossfläche realisieren (burgdorf25.ch), wovon rund die Hälfte als Wohnungen ausgewiesen ist – etwa 300 Einheiten an der Zahl. Für eine Stadt in der Grössenordnung Burgdorfs (15’000 Einwohner) eine beachtliche Dimension, die sich letztlich auch auf die weitere Entwicklung auswirken dürfte. Dieser Ansicht ist ganz dezidiert auch Birgit Kurz: «Das Burgdorfer Stadtzentrum erhält mit dem Projekt ein neues Gesicht», so die Leiterin Stadtentwicklung (siehe Box).

Bauprojekt Areal Suttergut, Burgdorf

«Die Stadt an mit öffentlichem Verkehr gut erschlossenen Lagen weiterzuentwickeln und zu verdichten, ist sinnvoll. Die Gebiete rund um die Bahnhöfe sind in den letzten Jahren in den Fokus gerückt. Grössere Areale, wie das ehemalige Aebi-Areal, heute Areal Suttergut, müssen städtebaulich und stadträumlich sinnvoll umgenutzt werden. Das Areal Suttergut mit stattlichen 24’000 Quadratmetern ist ein wichtiger Stadtbaustein, nicht nur für das Bahnhofquartier, sondern für die ganze Stadt. Das heutige Zentrum von Burgdorf wird mit der Überbauung Areal Suttergut ein neues Gesicht erhalten,

sei es aus der Perspektive der Zugfahrenden, vom erhöhten Quartier Gsteig aus oder aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Stadt. Es entstehen zum einen neue Bauten und Nutzungen, aber auch ganz neue Stadträume, ruhig und mitten im Zentrum. Die Planung hat aus meiner Sicht dafür die nötigen Leitplanken für die künftigen Nutzerinnen und Nutzer gesetzt – wie auch für eine Stadt der kurzen Wege. Zu wünschen bleibt, dass auf dem Areal Suttergut eine nachhaltige, lebendige und vielfältige Nachbarschaft entsteht.»

«Areale an zentraler Lage zu entwickeln, ist sinnvoll.»

Birgit Kurz, Leiterin Stadtentwicklung Burgdorf (bis 30. September 2019)

Der Bahnhof, von dem aus die Züge im Halbstundentakt in Richtung Bern und Olten – respektive Zürich – verkehren, ist keine fünf Gehminuten entfernt. Ideal also für Menschen, die ihrem Erwerb ausserhalb ihres Wohnorts nachgehen. «Ich wette darauf, dass von hier aus dereinst der eine oder die andere nach Zürich pendeln wird», ist sich Schneeberger sicher. Denn die Zeit im Zug lässt sich bekanntlich dank mobilen Gerätschaften effizient nutzen. Er selber übrigens pendelt mit der Bahn zwischen seinem Wohnort Baden und dem Arbeitsplatz in Bern hin und her. «Eine Stunde Zugfahrt eignet sich ausgezeichnet zum Arbeiten. Schwierig sind Distanzen von einer halben Stunde – da lohnt es sich kaum, den Laptop aufzuklappen!»

Schienenstränge als Entwicklungskorridore

Die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs für die Wohnlage ist ein offenes Geheimnis. Eine in diesem Sommer publizierte Untersuchung der Grossbank UBS etwa kommt zum Schluss, dass sich ein S-Bahn-Anschluss weit positiver auf die Attraktivität eines Standorts auswirkt als die Strassenanbindung. Und auch beim Bundesamt für Strassenbau (Astra) befasst man sich aktuell intensiv mit der Frage, wie sich Mobilität und Alltag zwischen Arbeit, Freizeit und Wohnen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln werden. Was die klare Umsetzung der Strategie «zurück an die Schiene» anbelangt, ist man in anderen Ländern allerdings schon viel weiter. In den Niederlanden zum Beispiel haben sich die Behörden der Provinz Noord-Holland gemäss Schneeberger zum Ziel gesetzt, 50 Prozent der neuen Wohnungen in Gehdistanz von Bahnhöfen anzusiedeln, sprich, der Weg zwischen Zuhause und Zug soll nicht mehr als 15 Minuten Fussmarsch in Anspruch nehmen. «Aktuell ist man diesbezüglich tatsächlich schon bei 41 Prozent angelangt», bemerkt Schneeberger, der das niederländische Modell als gutes Vorbild für die Schweizer Raum- und Verkehrsplanung erachtet.

Ebenfalls aus den Niederlanden stammt die eingangs erwähnte Idee, grosse Schienenwege bei der Planung von Immobilienprojekten als Orientierungshilfen oder sogenannte Entwicklungskorridore beizuziehen. Auf das Schweizer Mittelland adaptiert bedeutet dies in etwa, sich die Strecke Olten–Langenthal–Burgdorf–Bern als Kette vorzustellen, auf der die einzelnen Ortschaften Perlen gleich aufgereiht sind. Jede einzelne Perle oder eben Ortschaft ist individuell definiert und hat ihre spezifische Funktion. So wird das Gewicht bei Neubauprojekten beispielsweise auf Wohnen, Einkaufen oder Freizeit gelegt. «Es entsteht auf schmalem Raum eine Stadt, deren einzelne Quartiere den Schienensträngen entlang angesiedelt und vom öffentlichen Verkehr bestens erschlossen sind», so Schneeberger. Ein unkontrolliertes Zerfleddern des Siedlungsraums könne so verhindert werden, gleichzeitig werde einem allfälligen Leerbestand dank klarer Funktionsdefinition und Erschliessung schon frühzeitig entgegengewirkt.

Vernetzen, vernetzen, vernetzen

Wie wir in Zukunft arbeiten, wohnen, letztlich also leben werden, hängt direkt zusammen mit der Frage, wie sich Mobilität und Verdichtung unter einen Hut bringen lassen. Dabei spielt die Demografie eine genauso wichtige Rolle wie neue Technologien und letztlich auch die Finanzierbarkeit. Das ganze Themenpaket ist aktuell Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte.

Gut möglich also, dass die Nähe zur Schiene inskünftig nicht nur einzelne Orte und Projekte, die Bau- und Immobilienbranche oder den öffentlichen Verkehr einen Schritt respektive einen Zug weiterbringen wird, sondern letztlich auch unsere immer mobiler werdende Gesellschaft. Das Gebot der Stunde lautet Vernetzung: Vernetzung von Bauzonen und Projekten, Vernetzung von Disziplinen, Vernetzung von Entscheidungsträgern und Planern – und das ganz besonders, wenn es um die Erschliessung von Landreserven und die Entwicklung neuer Siedlungsräume geht. Für Paul Schneeberger ist klar: «Mobilität und Individualität bewahren uns letztlich nicht davor, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und Raumplanung neu zu denken.»

Ein Plan für die Bahn

Die Investitionen in den Ausbau der Eisenbahn bewirken weniger, als sie eigentlich könnten. Dabei kommt der Bahn bei der Siedlungsentwicklung eine absolut zentrale Rolle zu. In seinem kürzlich erschienenen Buch «Ein Plan für die Bahn. Wie die Milliardeninvestitionen in die Schiene mehr bewirken können» plädiert Autor Paul Schneeberger dafür, Raumplanung und Verkehrsplanung stärker zusammenzuführen.

 

Paul Schneeberger, «Ein Plan für die Bahn. Wie die Milliardeninvestitionen in die Schiene mehr bewirken können»

ISBN 978-3-03810-336-3

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