Wo Schellen klingen und die Zeit stillsteht

Nebst den vielen alternativen Arbeitsmodellen und neuen Perspektiven, welche die Digitalisierung ermöglicht, drängen sich gewisse Fragen besonders auf: Was geschieht mit dem traditionellen Handwerksberuf? Gibt es Arbeitsplätze, an denen die Digitalisierungswelle komplett abprallt?

Die Fragen führen uns in die Klangschmiede im Toggenburg, wo der Hammer den Takt bestimmt und die Zeit stillzustehen scheint. Der Stellenwert von handwerklichen Berufen steigt wieder, denn gutes Handwerk wird auch in Zukunft benötigt. Wo schöne Resultate nur möglich sind, wenn Menschen mit der Hand und ihren fünf Sinnen am Werk sind, hält die Modernisierung nur schwer Einzug. Davon ist René Soller überzeugt. Er ist einer von drei Schellen­schmieden, die feuervermessingen. Und er ist fasziniert von seinem Beruf, in dem die Digitalisierung nur am Rand eine Rolle spielt. Der Schmied liebt das Spiel mit dem glühenden Eisen und den groben Werkzeugen. Seine Hände sind schwarz, aber seine Augen leuchten, wenn er sich zum Rhythmus des Ambosses der Kraft seiner Vorstellungen hingibt und sich im schöpferischen Prozess verliert.

«Die Kunst liegt mehr im Bereich des Objekts, das entsteht. Aber damit Kunst entsteht, brauche ich das Handwerk.»

Diese Liebe zur kreativen Arbeit war es denn auch, die ihn vor drei Jahren zum Schmieden geführt hat. Nach über 30 Jahren in der Pflege, zuletzt als Berufsschullehrer, hat er seinen Beruf an den Nagel gehängt und den Schritt in die Selbständigkeit gewagt. Als Kunstschmied – ohne abschätzen zu können, ob sein Mut von genügend Arbeit und einem sicheren Verdienst gekrönt sein würde.

Das Feuer hat den Autodidakten 2005 gepackt, als er die Ausstellung eines Schmieds im Nachbardorf besuchte und den Hammer schwingen durfte. Es war Liebe auf den ersten Schlag. Danach hat sich René Soller das Schmieden selbst beigebracht. Während vier Jahren im eigenen Garten, später in der Scheune des Nachbarn, in der er eine Schmiede einrichten konnte. Zu einer Esse (Rauchfang über dem Herd einer Schmiede) ist er über einen alten Eisenhändler gekommen. Auch Kurse hat er besucht. Einer hat ihn besonders geprägt: Bei einem israelischen Schmied in Deutschland hat er gelernt, ergonomisch und kräftesparend zu schmieden. «Der beste Kurs, den ich je absolviert habe», wie er bekräftigt.

Ausbildungsplätze für Metallbauer mit Fachrichtung Schmiede sind rar geworden in der Schweiz. Insgesamt haben 2018 nur gerade 22 Ler­nende die Lehre abgeschlossen – eingerechnet die Hufschmiede, die eine eigene Fachrichtung bilden. Dennoch ist René Soller überzeugt, dass es den Schmied auch in 20 Jahren noch geben wird. «Die Frage ist mehr, wie gewisse Umwälzungen das Berufsbild verändern werden», ergänzt er. Um den Bereich Restaurierung macht sich René Soller keine Sorgen, denn die Objekte sind vorhanden – und sie werden irgendwann Erneuerung benötigen. «Die Schmiede wird eine neue Sprache finden. Auch im Bereich Kunst.» Der Hufschmied wird nach Einschätzung von René Soller ebenfalls nicht aussterben, denn dieser braucht orthopä­disches Wissen, um dem Pferd einen optimalen Gang zu ermöglichen. Eine Maschine ist noch nicht in der Lage, dieses Wissen und das handwerkliche Geschick so zu dosieren, wie es im Einzelfall gebraucht wird.

Nur noch wenige Schmiede beherrschen das traditionelle Handwerk des feuervermessingten Schellenschmiedens.

Eine kreative Arbeit von der Planung bis zur Montage

Der Schritt weg vom sicheren Beruf mit grossem Netzwerk hin in die unsichere Selbständigkeit hat sich für René Soller gelohnt: Im Kanton Thurgau betreibt er mit seiner Frau die Kreativschmiede Soller, bei der Klangwelt Toggenburg arbeitet er als Schellenschmied, macht Erlebnis­führungen und gibt Schellenschmiedekurse. Langweilig wird es ihm nie, kein Tag gleicht dem anderen. Nur der Moment des Einfeuerns ist immer gleich. Auf ihn freut sich René Soller Tag für Tag, denn die Faszination fürs Feuer ist gross. «Ohne Feuer kann ich nicht schmieden. Wenn das Feuer lodert und es warm wird, lebe ich auf.»

Nebst der Begeisterung für das einzigartige Handwerk fasziniert René Soller auch die Arbeit mit seinen Kunden. Die unterschiedlichsten Personen gelangen mit individuellen Wünschen an den Kunstschmied. Zum Beispiel Hausbesitzer, die Gegenstände brauchen, die es nicht ab der Stange gibt. Vor kurzem war es ein Gitter als Schutz für einen Zierbrunnen. Die kreative Arbeit braucht Zeit. Ein Schmied muss wissen, was er machen will und wie er zum Resultat kommt. Das fängt bei der Planung an und hört bei der Montage auf.

«Die Schmiede wird eine neue Sprache finden. Auch im Bereich Kunst.»

Ruhe und Handwerk

Es gibt praktisch nichts aus Eisen, das ein Schmied nicht in die richtige Form bringen kann. Zum Teil mit traditionellen Techniken, zum Teil mit modernen. Die Grundtechniken haben sich aber genauso wenig verändert wie die Werkzeuge. Die Zeit scheint stillzustehen zwischen Amboss und Hammer. René Soller mag die Ruhe in der Werkstatt fernab der modernen Wirtschaft, von Digitalisierung und dauerndem Wandel und erklärt: «Hektik ist eher schädlich. In der Regel ist man beim Schmieden nicht schneller, wenn man pressiert. Im Gegenteil. Das Risiko ist gross, dass man etwas vergisst.» Meint er das zweite Eisen? Zwei Eisen habe er tatsächlich manchmal im Feuer. «Aber dann darf mich niemand stören beim Arbeiten. Sonst verbrennt eines ganz bestimmt.» Ein Schmied muss das Feuer immer im Auge behalten, denn Schmieden heisst, sich in den Prozess einzulassen.Weisheiten aus dem Feuer

So hat er sich denn auch noch nie gewünscht, er könne eine Schelle per Mausklick formen anstatt unter Schweiss und Tränen. Das Geschick des Handwerks, das die Schelle herausbringt, macht seinen Reiz aus. «Eine Schelle aus dem 3-D-Drucker würde nicht gleich klingen», erklärt er. «Das Schmieden verändert das Gefüge des Metalls. Durch die Verdichtung ergeben sich ganz andere Klänge. Man muss die Form verstehen. Und das kann ein Drucker noch nicht.» René Soller versteht sich denn auch eher als Künstler. Wobei er präzisiert: «Oder als Kunsthandwerker. Es ist beides. Die Kunst liegt mehr im Bereich des Objekts, das entsteht. Aber damit Kunst entsteht, brauche ich das Handwerk.»

Die Bewegungen gehen dem zierlichen Schmied mit einer solchen Leichtigkeit von der Hand, dass man vergisst, welchen Knochenjob er ausübt. Doch René Soller relativiert: «Viel wichtiger als die Kraft ist die Technik. Wenn ich es richtig mache, tanzt der Hammer von allein.» Im bis zu 1200 ⁰C heissen Feuer schmiedet René Soller die Schellen als zwei voneinander getrennte Hälften. Anschliessend werden sie im Lehmmantel vermessingt, das heisst, sie werden mit Messing überzogen. Der beharrliche Schmied hat lange geübt, bis er das Verfahren beherrschte. Die Klangschmiede ist einer der wenigen Orte, an denen das anspruchsvolle Verfahren des Feuervermessingens angewandt wird. So ist René Soller überhaupt ins Toggenburg gekommen. Als er nämlich jemanden suchte, der ihm diese Kunst beibringt. Irgendwie ist er hängengeblieben. Und seither von der Klangschmiede nicht mehr wegzudenken.

«Das Geschick des Handwerks, das die Schelle herausbringt, macht seinen Reiz aus.»

Berufung oder Glück

Ist denn jeder seines Glückes eigener Schmied? René Soller bejaht: «Dem stimme ich zu. Im Leben haben wir in jeder Situation die Möglichkeit zu entscheiden. Deshalb hängt es von uns selber ab, ob wir glücklich sind oder nicht. Sicher gibt es äussere Einflüsse, die sich nicht verändern lassen. Aber trotzdem bleibt viel Spielraum für eigene Entscheide. Auch unter schwierigen Umständen. Das sehe ich beim Schmieden und in anderen Lebens­situationen.» Er spricht aus Erfahrung. Seinen Entscheid vor drei Jahren, sein berufliches Leben komplett umzukrempeln, hat er nie bereut. Die Kurse, die er in der Klangschmiede gibt, geben ihm die Bestätigung jedes Mal aufs Neue: «Zu sehen, wie glücklich Menschen sind, die am Feuer arbeiten, ist unglaublich bereichernd.» Und dass die handwerkliche Tätigkeit auch in Zukunft ihren Platz haben wird, ist nach dem Besuch im Toggenburg klar. Handwerkliches Können hat Seele. Es spricht eine Sprache, die keine Maschine zu sprechen vermag.

Senntumsschellen

Die Herstellung der Senntumsschellen ist die Königs­disziplin in der Schmiedekunst. Beim Alpabzug werden die schweren Schellen mit Stolz von den vordersten drei Kühen getragen. Sie sind harmonisch auf den 6., 7. und 8. Ton der Naturtonreihe abgestimmt. Dies wird erreicht, indem sie nach dem Schmieden im Feuer vermessingt werden. Diese Legierung erzeugt die singenden Obertöne und erfordert grosses handwerkliches Wissen.

Klangwelt und Klangweg

Das Toggenburg ist geprägt von einer ursprünglichen Musikkultur, die in der einheimischen Bevölkerung stark verwurzelt ist. Die Klangwelt bietet einzigartige Erlebnisse zum Thema Klang, Resonanz, Brauchtum, Stimme und vielem mehr in Klangkursen, auf dem Klangweg von Alt St. Johann nach Iltios, bei Festivals und Konzerten sowie in der Klangschmiede.

Weitere Informationen finden Sie auf klangwelt.swiss.