Von Paukern und Trompetern

Plötzlich machen alle Homeoffice. Auch die mit den lauten Berufen.

Unser Sohn wird einmal ein grosser Trompeter. Aber noch ist er nicht so weit. Er spielt erst seit einem guten Jahr. Und bei diesem Instrument verhält sich das musikalische Können umgekehrt proportional zur erklingenden Lautstärke. Folglich spielt so ein Trompetenanfänger sehr laut. Und das zudem in den strübsten Tönen. Mir ist das grund­sätzlich egal. Ich spiele selber Trompete und auch gerne mal schief, das stört hier niemanden. Ich wohne mit meiner Familie abgelegen, auf dem Land. Manche nennen es «beschaulich», ich nenne es «im Juhee draussen». Ein Albtraum für alle Liebhaber urbaner Betriebsamkeiten. Wir haben keine Nachbarn in Hörweite. Wir haben noch nicht mal Nachbarn auf Sicht. Wir haben die Nachbarn höchstens in Riechweite – dann, wenn sie ihre Gülle ausfahren. Trotzdem bekamen wir nun unerwartet Probleme mit Nachbarn. Und zwar mit den Nachbarn des Trompetenlehrers unseres Sohnes. Diesen Frühling verbringe ich, wie alle anderen auch, mit meiner Familie zu Hause. In «Corontäne». Wir sind ausschliesslich in unseren vier Wänden. Keine Vereinsanlässe. Keine Kulturanlässe. Keine Ausflüge. Kein Kino. Keine Sport­anlässe. Ich trete nicht mehr auf als Kleinkünstlerin, unsere Kinder gehen nicht mehr zur Schule.

Wir betreiben Homeoffice, Homeschooling und sogar Home-Musikunterricht. Per Videotelefonie. Der Musiklehrer spielt vor, das Kind spielt nach. Vor dem Computerbildschirm, verbunden durchs Internet. So wird, mittels modernster Technik, ein jähes Ende der noch jungen Trompeterkarriere unseres Sohnes abgewendet. Der Trompetenlehrer ist neben dem Lehramt noch Orchestermusiker und Fan von experimenteller Jazzmusik. Seit er unseren Sohn via Computer­bildschirm unterrichtet, weiss ich zudem, dass er eine Zimmer­pflanze hat. Und Nachbarn. Die sieht man zwar nicht während der Video­telefonie, aber der Trompeten­lehrer hat es mir erzählt. Er meldete nämlich Bedenken an, wegen des Home-Musikunterrichts. Er fürchte sich davor, seine Nachbarn zu verärgern. Normalerweise findet der Trompeten­unterricht in Schulräumen statt und die Nachbarn sind normalerweise auswärts am Arbeiten. Nun kommt beides zusammen: Unterrichtet wird in der Wohnstube, und die Nachbarn sind schampar fest daheim. Ich gehe zudem von ein paar Vor­geschichten aus. Es könnte sehr gut sein, dass die Geduld der Nachbarn durch die gelegent­lichen Klänge von experimenteller Jazzmusik bereits vorab etwas auf die Probe gestellt wurde – eine Eskalation ist jedenfalls nicht auszu­schliessen. Ich kenne mich da aus. In meinen Jugendjahren verbrachte ich mit ein paar Kollegen eine Woche in Paris. Wir wohnten zu sechst in einer 2-Zimmer-Wohnung und machten den ganzen Tag Musik. Der Nachbar unter uns klopfte jeweils mit dem Besenstil an die Zimmer­decke, während der Nachbar über uns mit den Füssen auf den Boden stampfte. Beides nicht im Rhythmus zur Musik. Dazu lärmten sie Wörter. Mein Französisch war damals noch nicht sehr gut, aber es waren keine netten Wörter, so viel stand fest. Im Geiste sah ich nun den armen Trompeten­lehrer bereits mit klopfenden und stampfenden Nachbarn konfrontiert. Ich hätte ihm natürlich vorschlagen können, unserem Sohn vorüber­gehend etwas Lautloseres beizubringen. Jonglieren zum Beispiel. Jedoch wäre das der Trompeter­karriere unseres Sohnes nicht zuträglich. Und vielleicht kann der Trompten­lehrer gar nicht jonglieren.

Animation: Jamie Oliver Aspinall

Dieser hat inzwischen die Unterrichtsstunden sämt­licher Schüler auf einen einzigen Tag verlegt. So werden seine Nachbarn zwar intensiv, dafür nur einmal pro Woche, mit Übungsmusik derangiert. Vielleicht hat er sie darüber charmant in Kenntnis gesetzt, indem er ihnen einen hübschen, handgeschriebenen Brief überreichte. Zusammen mit einer Schachtel Ohropax. Oder er hat sich eine Palette Eierkartons besorgt und macht seine Wohnung schalldicht, indem er die Kartons an die Wände montiert. Selbstverständlich mit Leim. Nicht mit Nägeln. Ja, Kreativität ist gefragt. Der Trompetenlehrer wird bei weitem nicht der Einzige sein, der jetzt Nachbarn hat, die vor kurzem noch gar nicht so fest da waren. Wegen des Lockdowns leben wir nicht nur innerhalb der eigenen vier Wände nah aufeinander – auch innerhalb eines Hauses oder eines Quartiers verspürt man plötzlich ungewohnten Dichtestress. Das verlangt von allen Toleranz. Und Nachsicht. Was den Leuten, so höre ich es von verschiedenen Seiten, nicht so schwerfällt, wie man meinen könnte. Zu wissen, dass alle im gleichen Schlamassel sitzen, unverschuldet, das schweisst zusammen. Man bildet eine Schicksals­gemeinschaft. Solidarisch werden Einkäufe und Botengänge für ältere oder kranke Nachbarn übernommen. Lapidare Streitigkeiten werden zugunsten des friedlichen Zusammenlebens vorläufig beiseitegelegt, und wer weiss, vielleicht entstehen da gar neue Freundschaften. Ich fände es wunderbar, wenn wir dieser Krise auf diese Weise doch auch etwas Gutes abgewinnen könnten. Und manche Probleme lösen sich von selbst: Der eine Nachbar des Trompetenlehrers, der mit dem empfindlichsten Gehör, ist vor einer Woche ausgezogen.