Seine Kunst leitet ihn

Norbert Stocker erschafft Skulpturen aus Holz. Manche sind abstrakt, andere konkret. Bei allen lässt der Künstler Raum für indi­viduelle Empfindungen.

Norbert Stocker schweigt. Er denkt nach. Dann sagt er kopfschüttelnd: «Ich kann die Frage nicht beantworten, was Kunst ausmacht. Kunst ist kein Willensakt. Kein intellektueller Vorgang. Man kann Kunst nicht erklären.» Norbert Stocker ist 82 Jahre alt, lebt in Schwyz und ist Künstler. Seine Werke stehen in Gärten, Wohnungen, öffentlichen Gebäuden, Empfangsbereichen von Unternehmen und auch im Quadrolith der Alfred Müller AG. Stocker gestaltet Skulpturen aus Holz. Zum Unternehmen hat er eine familiäre Bande. Er ist der Bruder von Annaliese Müller-Stocker, der Frau des Firmengründers Alfred Müller. Abstrakte Gebilde, geometrische Kon­struktionen, Frauenkörper, Köpfe, Gesichter. Er setzt Farben ein, schafft Abstraktes und Gegenständliches – und manchmal beides in einem. «Während meiner Ausbildungszeit in den 1960er-Jahren hiess es, die Zeit der gegenständlichen Kunst sei vorbei. Dann kam sie wieder auf. Ich lasse die Grenzen in meinen Arbeiten gerne verschwimmen.»

Das Haus als Lebensaufgabe

Sein Weg als Künstler begann über die Malerei. Stocker, der in Zug und Baar aufgewachsen ist, liess sich an der Kunstgewerbeschule Luzern, der Hochschule für bildende Künste Berlin und in London ausbilden. 1968 kam er nach Schwyz, gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth, die er an der Kunstgewerbeschule Luzern kennengelernt hatte. Sich als Künstler den Lebensunterhalt zu verdienen, war kaum möglich. Darum nahm er eine Stelle an der Kantonsschule Schwyz für Bildgestaltung, Fotografie und Bühnenbau an. Die Arbeit bereitete ihm Freude. Bis 1994 blieb er an der Schule.

Neben der Kunst beschäftigten den Künstler viele weitere Lebensaufgaben. Anfang der 1970er-Jahre konnten Norbert Stocker und seine Frau ein Haus aus dem 16. Jahrhundert erwerben. Der Zustand des Riegel- und Steinbaus war desolat. Vieles war kaputt, die historische Bausubstanz teilweise durch Tapeten oder Teppiche verschandelt. Trotzdem erkannte das junge Paar die Schönheit, die unter all den Schichten lag. Und so machten es sich Norbert und Elisabeth Stocker zur Aufgabe, diese Einzigartigkeit wieder an die Oberfläche zu bringen. Es wurden Böden freigelegt, Steinplatten geschrubbt und geschliffen, Tapeten entfernt, Wand- und Deckenmalereien entdeckt und restauriert, Steine aus der Muota geschleppt und in Handarbeit auf dem Vorplatz verlegt und vieles mehr. Einen grossen Teil der Arbeiten verrichtete das Paar selbst. Unterstützt wurde es von Handwerkern, Freunden und der Familie sowie dem Denkmal- und Heimatschutz.

Holz für die Kunst aus dem eigenen Wald

Im Zimmer nebenan stapelt sich Kunst aus verschiedensten Abschnitten seines Schaffens, von frühen Gemälden bis zu jungen Skulpturen. Im Laufe der Jahre kam Norbert Stocker von der Malerei zur Arbeit mit Holz. «Holz hat mich immer fasziniert. Als Junge war ich gerne im Wald. Später hat mich Holz als Werkstoff inte­ressiert», erzählt er. Der Grossteil des Holzes, das er für seine Arbeiten braucht, bezieht der 82-Jährige aus seinem privaten Wald im Tessin. Dort fällt er die Bäume für seine Kunst. «Es hat etwas Brutales, einen Baum zu fällen. Es ist ein Lebewesen. Das vergesse ich bei meiner Arbeit nie», so der Künstler. Die Geschichte eines Holzstücks nimmt er teilweise bewusst in seine Arbeit auf. «Manchmal lasse ich mich von der Form eines Stücks leiten. Manchmal will ich mich aber nicht darauf einlassen und forme es nach meinen Vorstellungen.»

«Es hat etwas Brutales, einen Baum zu fällen. Es ist ein Lebewesen. Das vergesse ich bei meiner Arbeit nie.»

Norbert Stocker

Geheimnisvoll und bewegend

Die zweite Wirkungsstätte des Künstlers befindet sich im Keller des Hauses. Hier werden die groben Arbeiten vorgenommen. Im Raum liegen eine Motor- und eine Stichsäge, ein Beil, Feilen, Schnitzmesser. Die Werkbank ist voll mit Pinseln, Zeitungen, Farben. Individualität ist Norbert Stocker wichtig. Sie heute zu finden, sei aber schwierig. «Die meisten Menschen folgen am Ende doch einfach einer Strömung. Denn echte Individualität kann auch Angst machen. Sie erinnert uns daran, dass wir allein sind.»

Seinen künstlerischen Prozess geht Norbert Stocker gerne allein. «Ich lasse mich leiten. Hier hat mich beispielsweise beschäftigt, was in unseren Köpfen vorgeht», sagt er, als er neben einem geometrischen Gebilde steht. «Ich nenne es darum ‹Gedankenhaus›». Ein anderes – zwei lange schmale Hölzer, eines mit einem Schwung, die aufeinanderliegen – hat er für sich mit «Langer Atem» betitelt. «Wenn ich mich an eine Arbeit mache, weiss ich nicht, was daraus wird. Es ergibt sich», sagt der 82-Jährige. Manchmal wisse er auch nach Abschluss eines Werks nicht, wofür es stehe. «Es ist ein Irrglaube, dass Künstler immer den Sinn ihrer Werke kennen. Es ist aber auch nicht immer nötig, alles auszuführen oder zu betiteln.

Nach diesen Ausführungen schweigt Norbert Stocker wieder. Er sieht sich im Keller um. Dann kommt er noch einmal zurück auf die Frage nach der Definition von Kunst: «Vielleicht kann man es so sagen: Kunst löst Empfindungen aus und bewahrt in sich ein Geheimnis.»