Lebensraum Küche

Kochen ist Kult, denn um den gesunden Genuss ist in den vergangenen Jahren ein regelrechter Hype entstanden. Das hat die Küche wieder ins Zentrum des sozialen Lebens gerückt. Der neue Stellenwert zeigt sich im Design und in den Materialien.

In früheren Zeiten war das Feuer Lebensmittelpunkt. Man versammelte sich darum nicht nur zur Nahrungszubereitung, sondern auch, weil es wärmte und Licht spendete. In mittelalterlichen Häusern fand man die Feuerstelle entweder ebenerdig oder leicht erhöht in einer Ecke des Wohnraums. In der Küche wurde gekocht, gegessen und gewohnt. Diese sogenannte Mehrzweckküche war in weiten Teilen der Schweiz bis ins 19. Jahr­hundert gang und gäbe. Die eigens für die Nahrungszubereitung genutzte, vom Wohn­raum separierte Küche war lange Zeit ein Privileg der oberen Gesellschaftsschichten.

Allerdings war der häufige Aufenthalt in der Küche nicht ohne gesundheitliche Risiken, hatte diese doch mit der einen oder anderen Unzulänglichkeit zu kämpfen: Die Luftzirkulation liess zu wünschen übrig, denn Rauch- und Dampfabzüge gab es kaum. Russ setzte sich an allen Enden und Ecken fest, Tageslicht war nur spärlich vorhanden und Wasser musste eimerweise am Brunnen geholt werden. Die Küche, so ist dem «Historischen Lexikon der Schweiz» zu entnehmen, war eine Brutstätte von Krankheiten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ging es den unerwünschten Keimen allerdings nach und nach an den Kragen, als das Bewusstsein für Hygiene zu wachsen begann. Die Wände wurden fortan gekachelt, und statt vom Brunnen kam Frischwasser nun aus dem Hahn. Eine weitere Komfortverbesserung hielt im Verlauf des 20. Jahrhunderts Einzug – Gas- und Stromanschlüsse wurden installiert, und die holzbetriebenen «Feuerkästen» hatten ausgedient. Der Kühlschrank wurde fester Bestandteil der Einrichtung und löste den hölzernen Eisschrank ab. Schliesslich war es die Entwicklung eigenständiger Heizsysteme, die dazu führte, dass die Küche vom Wohnraum abgetrennt werden konnte.

Die Küche wird zum Labor

Eine der grundlegendsten Veränderungen brachten die 1920er Jahre. An der Frankfurter Frühjahrsmesse von 1927 sorgte die «Frankfurter Küche» der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky für erhebliches Aufsehen. Die Einrichtung war darauf ausgelegt, die Abläufe möglichst effizient zu gestalten. Die Küche wurde zum funktionalen, standardisierten Labor, denn die Verpflegung der Familie hatte schnell zu gehen – schliesslich waren viele Frauen zu der Zeit berufstätig und mussten sich darüber hinaus auch noch um den Nachwuchs kümmern. Die Küche war nun ein reiner Arbeitsplatz, abgeschlossen vom Wohn- und Essbereich.

Neue Häuslichkeit

Nach den Jahren des rein rationalen Gebrauchs erlebt die Küche seit einigen Jahren ihre Renaissance als Lebensmittelpunkt der Familie. Ums Kochen ist ein regelrechter Hype entstanden, der sich vom Einkaufen regionaler Produkte über die schonende Zubereitung bis hin zur Konservierung erstreckt. Jagen und Sammeln sind heute viel mehr Freizeitbeschäftigung leidenschaftlicher Köche als eine Frage des Überlebens.

Die neue Häuslichkeit lässt Gastfreundschaft und Genuss wieder aufleben und wird in aufwendigen Ritualen zelebriert. Eine im September 2017 vom Gottlieb Duttweiler Institute herausgegebene Studie kommt gar zum Schluss: «Essen wird zum neuen Pop.» Laut den Autorinnen und Autoren esse man nicht mehr nur, um satt zu werden. Vielmehr sei das Essen Wellness-Erlebnis und Lifestyle, es bedeute Gesundheit und solle dem inneren Wohlbefinden dienen.

Auf Mass gefertigt

Der grosse Stellenwert der Kulinarik schlägt sich deutlich sichtbar im Design der Küche nieder. Die Übergänge zwischen Wohn- und Kochbereich sind nahtlos, und der Materialisierung wird höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Was im Rest des Hauses tonangebend ist, ist auch in der massgefertigten Küche angebracht – edle Hölzer, Naturstein, Beton oder Metalle wie Messing, Edelstahl und Kupfer. Die Küche ist Teil eines stimmigen Ganzen. Garmethoden, die einstmals Privileg von Profiköchen waren, beglücken auch immer mehr Hobbyköche, und so ergänzen Sous-vide- oder Kombigarer den herkömmlichen Backofen. Um die hohen Ansprüche an die Ästhetik zu erfüllen, lässt sich die Technik bei Bedarf problemlos kaschieren. Schiebetüren und Push-to-open-Systeme sorgen dafür, dass die Geräte bei Nichtgebrauch elegant in den Hintergrund treten.

Sterne statt PS

Muss die Verpflegung unter der Woche schnell gehen, erklärt eine zunehmende Zahl von Feinschmeckern die Küche Wochenende für Wochenende zum Gourmet-Tempel. Dass Männer heute ebenso emotional über das Niedergaren diskutieren wie über Pferdestärken, hat möglicherweise der Digitalisierung in der Küche einen Schub verliehen. So lässt sich der Ofen bequem vom mobilen Endgerät via App steuern, der Kühlschrank meldet aufs Handy, was fehlt. Die Küche ist zum Statussymbol avanciert und macht dem Fuhrpark ernsthaft Konkurrenz. Doch nicht bei allen kommen die neuen digitalen Funktio­nen gut an. Denn das Bedürfnis, als Ausgleich zur Arbeit am Computer etwas mit den Händen zu schaffen, ist gross. Die Lust am Kochen ist neu erwacht und macht die Küche mehr denn je zu einem Ort des guten Geschmacks.

Warum ist Kochen Trend?

Kochen liegt im Trend. Worin gründet dieser Hype rund um das Essen?

Man kann es vielleicht als kompensatorisches Ritual für das Schwinden der Realien rund um das Kochen verstehen. Also der verfügbaren Zeit, um sich dieser Aktivität hinzugeben, und der Bedrohung, der unsere Nahrungsmittelproduktion ausgesetzt ist.

Wie hat diese neue Leidenschaft fürs Kochen den Stellenwert der Küche verändert?

Wenn man es in dieser anthropologischen Logik weiterdenkt, so muss man hinzufügen, dass jede Ritualisierung mit ästhe­tischen, formalen Vorschriften wie auch mit Fetischen arbeitet. Nicht nur hat die Küche den sozialen Stellenwert als Treffpunkt im Haus und den symbolischen als «Familienherd» wieder ­zurückerobert (auch wenn vielleicht gar nicht gekocht wird). Sie ist auch Schauplatz einer penibel geplanten und kon­­trollierten Inszenierung geworden, nämlich des Kochens.

Marie Glaser ist Kulturwissen­­schaftlerin und leitet seit Dezember 2015 das ETH Wohnforum.

«Sie (die Küche) ist Schauplatz einer penibel geplanten und kontrollierten Inszenierung geworden, nämlich des Kochens.»

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert haben sich am stärksten auf das Kochverhalten ausgewirkt?

Wie für so manches unserer heutigen Realität, so würde ich auch für die Veränderungen des Koch- und Essverhaltens in erster Linie die grundlegenden Umwälzungen der Industrialisierung zur Verantwortung ziehen, mit der radikalen Transformation der Lebensrhythmen, der Rationalisierung von Zeit und Raum, der Trennung und Distanz zwischen Lebensmittelproduktion und Konsum. Natürlich sind bei dieser Geschichte die Frauen als Protagonistinnen gefragt, war es doch über viele Jahrhunderte ihre Aufgabe und Bürde, für den Haushalt Verantwortung zu tragen. Als die Industrie und später auch der Dienstleistungssektor die Frauen auf den Arbeitsmarkt bestellten, mussten Kürzungen an ihren Tätigkeitsbereichen vorgenommen werden. Das Kochen fällt natürlich auch darunter. Viele der Hilfsmittel, die die Technik und die Lebensmittelindustrie dazu bereitstellen, zielen vornehmlich dahin, den Aufwand zu reduzieren.

Die Männer haben die Küche erobert. Kochen sie anders als Frauen?

Die Männer hatten schon immer ein bestimmtes Segment des Kochens für sich beansprucht. Bis heute wird – nach vorzeitlichen patriarchalen Clan-Gepflogenheiten der Sammler und Jäger – das Fleisch oder der ganze Fisch, sprich die Beute, dem männlichen gastronomischen Sachverstand überlassen. Auch ist die ars gastronomica, die Kochkunst (weniger das Alltagskochen), eine traditionell männliche Domäne, in der seit dem 17. Jahrhundert Starköche wie beispielsweise François-Pierre de La Varenne (1618–1678) von den europäischen Höfen gefeiert wurden. Oder auch Paul Bocuse, der französische Star der Nouvelle Cuisine, der im Januar gestorben ist.

Wie hat sich «der Mann in der Küche» auf die Einrichtung, die Geräte oder das Design ausgewirkt?

Die Küche hat sich als Reich des zaubernden Gentlemans zu ­einer Bühne des Kochens entwickelt. Das heisst der Darstellung von Kultiviertheit, Weltbürgertum, Luxus, Sinnlichkeit, technischer Perfektion, Kontrolle und finanziellem Vermögen. Das schlägt sich selbstverständlich auf die Ästhetik der Küche nieder, die nun «wertvolle» Naturmaterialien einsetzt, der Botschaft des Designs einen grossen Platz einräumt, während ihr die Fetischisierung technischer Geräte einen Hightech-Anstrich verleiht.

Welche Küchen- bzw. Kochtrends zeichnen sich für die Zukunft ab?

Vermutlich wird die allgemeinere Frage um das Wohnen in den Städten einen bestimmenden Einfluss auf die zukünftigen ­Küchenräume haben. Es wird sich zeigen, ob der reale Platzmangel die kulturell bedingten Raumerwartungen erfüllen kann. Wenn man die Zahlen der Trendbewegung zu einer immer mehr der Industrie und den externen Zulieferern dele­gierten Ernährung in Betracht zieht, so erscheint die primäre Funktion der Küche wahrlich gefährdet. Vielleicht liegt der Schlüssel für ihre künftige Erscheinung in ihrer sozialen Bestimmung.

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