Mehr Freiheit? Mehr Druck? Pointierte Gedanken von Ludwig Hasler

Der Philosoph und Journalist sinniert darüber, was die neue Arbeitswelt mit dem Menschen macht.

Die Zukunft ist schon da. Etwa in der neuen Microsoft-Zentrale in München: 1900 Mitarbei­tende, 1100 Arbeitspulte. Die Angestellten sind eh nur da, wenn sie wollen. Sonst arbeiten sie zu Hause oder im Englischen Garten. Arbeits­platz ist der Laptop. Die Hierarchie ist unsichtbar, die Organisation offen. Die Teams operieren selbständig, auch dynamisch, das heisst ohne fixe Konturen.

Was passiert mit dem Menschen in dieser neuen Arbeitswelt? Wird er freier, selbständiger, engagierter? In herkömmlichen Berufswelten hatte er wenig individuellen Spielraum. Firmen wurden organisiert wie Maschinen, möglichst perfekt, das machte Mitarbeitende zu Rädchen, die exakt ausführten, was die Chefingenieure vorgaben, basta. Kein Wunder, begnügen sich – laut Gallup-Umfrage – in der Schweiz noch heute 70 Prozent aller Angestellten mit «Dienst nach Vorschrift», als wären sie ein Haufen Knechte, Ausbildung top, Engagement unterentwickelt.

Kommt da jetzt Bewegung hinein? Verwandelt die neue Arbeitswelt den Knecht zum Meister? Klar, wir werden nie machen können, was wir wollen. Doch Freiheit bedeutet eh nicht, dass ich tun kann, was ich will. Sondern dass ich, was ich tue, zu meiner eigenen Sache mache. Wir bleiben späte Nachfahren des Sisyphus, der – als Strafe der Götter – einen Stein den Berg hinanrollen muss, damit nie oben ankommt, unaufhörlich von neuem Anlauf nimmt, deshalb als Prototyp menschlicher Vergeblichkeit gilt. «Aber wir müssen uns Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen», sagt Albert Camus. Denn dieser Sisyphus lehnt es ab, den Stein als Strafe der Götter zu erleiden, er hat die Kraft zu entscheiden: Das ist mein Stein, egal wo ich ankomme, Hauptsache, ich bin im eigenen Auftrag unterwegs. So fühle ich mich frei und vergnügt, egal, wer über mir der Boss ist.

Was aber ist mit den nicht gar so Begabten, die nie einen Strick zerreissen, im Schutz der Betriebsstruktur aber ordentlich mitarbeiten?

Im eigenen Auftrag unterwegs sein – so einfach ist das Geheimnis eines gelungenen Lebens. Woran ich arbeite zu meiner persönlichen Angelegenheit machen. Motto: Ich bin der Player, nicht die Schachfigur. Das kann mit flexibilisierter Arbeit besser aufgehen. Mehr Home-Office, mehr Zeitsouveränität, mehr Selbstbestimmung? Die technischen Möglichkeiten sind da. Nicht nur Werberinnen, Programmierer und Redaktoren arbeiten problemlos zu Hause. Wieso sollten Ärzte, Ingenieure, Verwaltungsleute all die Bürotätigkeiten immer im Büro selbst erledigen, wenn die Daten sowieso online versendet werden? Erwerbsarbeit und Privatleben können besser harmonieren: Kinder transportieren, Angehörige betreuen, Haushalt organisieren – geht alles stressfreier zwischendurch. Für Frauen sei Home-Office so revolutionär «wie die Pille in den 60er Jahren», sagt Sylvia Coutinho, Chefin UBS Brasilien, «es eröffnet alle möglichen Freiheiten». Arbeiten, wenn die Kinder schlafen, sich beim Kochen in Videokonferenzen einschalten.

Seit wann platzt vor Inspiration, wer allein am Strand sitzt und sich dringend etwas einfallen lassen sollte?

Alles famos. Allerdings: Karrieren macht man nicht online; wer in der Zentrale nicht präsent ist, bleibt zu Hause sitzen. Überhaupt macht Freiheit auch mehr Druck. Ist es der Firma egal, wo und wann wir arbeiten, heisst das: Hauptsache, wir performen. Wir sind dann genau das, was wir produzieren (Ideen, Software, Produkte). Ich = mein Output. Der Input wird Privatsache. Herrliche Zeiten für Talente. Für schnelle, findige, kreative Köpfe. Die müssen nicht länger Bürostunden absitzen. Die liefern just in time, danach gehen sie segeln. Oder sie liefern vom Segelboot aus. Was aber ist mit all den anderen, den nicht gar so Begabten, die nie einen Strick zerreissen, im Schutz der Betriebs­struktur aber ordentlich mitarbeiten? Für sie wird Flexibilität zur Drohung. Der neue Angestellte soll für einen Auftrag alles geben – und sich daran gewöhnen, lebenslänglich auf Probe angestellt zu sein. Unternehmer seiner selbst? Prima. Aber verkraften alle eine hochquali­fizierte Landstreicherexistenz?

Ist vieles noch Theorie – manches dürfte es auch bleiben. In der Praxis brauchen die meisten Unternehmen ganz altmodisch Menschen mit Hand und Fuss, zu ganz bestimmten Zeiten. Nicht nur Hotels lassen sich wohl nie als Plattform für Crowd-Worker führen, die zu Hause am Laptop sitzen. Und was die kreative Fraktion betrifft: Seit wann platzt vor Inspiration, wer allein am Strand sitzt und sich dringend etwas einfallen lassen sollte? Schlaue Ideen springen eher nebenher heraus, beim zweckfreien Gespräch am Kaffeeautomaten, beim Bier nach der Arbeit. Liegt daran, dass unser Hirn zwar ein grosses Wunder ist, jedoch keine Rechenmaschine, eher ein «Sozialorgan», findet der Hirnforscher Joachim Bauer. Und das braucht zur Motivation Beachtung, Interesse, Anregung. «Die stärkste Motivationsdroge ist der andere Mensch.»

Eindeutigkeit ist unter irdischen Bedingungen nicht zu haben. Also klug mischen: so viel Freiheiten wie möglich, Hauptsache, der Angestellte wird zum flexiblen Mit-Unternehmer. Doch im Bewusstsein, dass er das am besten schafft, wenn er mit einer verschworenen Truppe unterwegs ist. Im eigenen Auftrag, klar.