Die wichtigste Fähigkeit der Chefs ist Loslassen

Barbara Josef ist Expertin für die neue Arbeitswelt im Zeitalter der Digitalisierung. Sie glaubt, dass unsere Jobs zwar anspruchsvoller, aber für die Mitarbeitenden auch motivierender werden. Den Chefs rät sie, mehr zu vertrauen statt zu kon­trollieren.

Ihr Beratungsunternehmen heisst 5to9. Arbeiten Sie also vor allem in der Nacht?

Die ideale Definition wäre, dass ich nur vier Stunden arbeite (lacht). Aber in Wirklichkeit war die Arbeits­zeit nach der Firmengründung eher bei five to five, also zwölf Stunden am Tag … Spass beiseite: Die Idee hinter dem Firmennamen ist, dass viele Leute in Jobs sind, in denen sie kreativ sein, sich austauschen müssen. Gute Ideen entstehen aber nicht unbedingt zu Bürozeiten, dazu braucht es Freiraum.

Wie leben Sie selber die neue Arbeitswelt?

Beim Thema neue Arbeitswelten denken viele einfach an neue Büroräume und neue Arbeitsszenarien wie Home-Office oder Coworking. Das ist aber nur ein Teil der Veränderungen. Der grössere Wandel ist der zu einer Gig Economy oder Freelance Economy. Man hat nicht mehr eine fixe Anstellung, sondern arbeitet für ganz viele unterschiedliche Kunden und finanziert sich durch diese einzelnen Projekte. Ich hatte nie vor, eine eigene Firma zu gründen, und bin heute trotzdem Teil dieser Freelance Economy – weil ich gemerkt habe, dass ich so meiner Leidenschaft für die neuen Arbeitswelten am besten nachgehen kann und viel mehr lerne, als wenn ich nur für eine Firma arbeite.

Sie beraten und publizieren zum Thema New Work. Was ist damit gemeint?

Ich beschäftige mich mit der Frage, wie Organisationen neue Arbeits­szenarien in ihre bestehende Arbeitskultur integrieren können. Meine Perspektive ist dabei immer die von etablierten Firmen. Heute geht es vor allem darum, wie neue Technologien und die zunehmende Automa­tisierung die Arbeit und unsere Jobs verändern werden. Konkret: Welche neuen Fähigkeiten brauchen wir in Zukunft? Wie sehen neue Raumkonzepte aus, die kreative Denkarbeit oder Höchstkon­zentration fördern? Wie kann die Arbeitskultur verändert werden, so dass die Mitarbeiter mehr Autonomie und Freiräume geniessen, ohne dass die Teamproduktivität oder die Identifikation mit der Organisation darunter leiden?

«Offenheit, Neugierde und Hilfsbereitschaft werden wichtiger.»

Welche Fähigkeiten werden für die Arbeitnehmer in Zukunft wichtiger?

Unsere Jobs werden anspruchsvoller und komplexer, dessen müssen wir uns als Gesellschaft bewusst sein. Einfach strukturierte, repetitive Tätigkeiten werden zunehmend automatisiert und an Maschinen delegiert. Die OECD hat die folgenden vier C als Zukunftskompetenzen definiert: Creativity, Communication, Collaboration und Critical Thinking. Auf der Kreativität liegt momentan wohl der grösste Fokus. Gemeint ist nicht die künstlerische Kreativität, sondern eher die Fähigkeit, Lösungen für neue Problemstellungen zu finden. Gleichzeitig gewinnen neue Aspekte an Bedeutung. Ein CEO hat kürzlich an einem Podium gesagt: «Früher stellten wir Leute wegen ihrer Fähigkeiten und ihrer Erfahrung ein, heute wegen ihres Mindsets, ihrer Haltung.» Offenheit, Neugierde und Hilfsbereitschaft werden wichtiger. Das finde ich grundsätzlich gut. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir es da nicht übertreiben, indem wir versuchen, den Menschen in die Köpfe zu schauen und laufend ihre Motive zu hinterfragen. Wir sollten uns viel eher Gedanken machen, was wir persönlich zu einer besseren Arbeit beitragen können. Manchmal sind es banale Dinge wie der Früchtekorb oder guter Kaffee im Pausenraum. Oder mal im Team zu fragen, wann eigentlich das erste Meeting am Morgen stattfinden soll, damit es für alle gut aufgeht.

Muss man die Mitarbeitenden unterstützen, damit sie zu dieser offenen Haltung kommen?

Das glaube ich nicht – die meisten Menschen möchten einen Beitrag leisten und Verantwortung übernehmen. Im Privatleben tun sie dies ja auch. Wichtig ist, eine Arbeits­kultur zu schaffen, die Eigeninitiative fördert. Dies schafft man, indem man anständig ist mit den Mitarbei­tenden, Danke sagt, auf Leute eingeht und gute Ideen belohnt.

Auch die Führungskräfte sind gefordert. Was ist die wichtigste Fähigkeit für Chefs in Zukunft?

Loslassen! Die Führungskräfte haben gelernt, alles zu kontrollieren und zu überwachen. Heute ist Vertrauen wichtiger. Führung muss in Zukunft noch stärker über klare Zieldefinitionen und geteilte Werte als Orientie­rungshilfe stattfinden und weniger über «Mikromanage­ment».

Und wie können sie die Mitarbeitenden im Transformationsprozess am besten begleiten?

Führungskräfte machen eine doppelte Transformation durch. Zum einen müssen sie ihre eigene Rolle hinterfragen und neu definieren, zum anderen den Wandel begleiten und schauen, dass es den Leuten dabei gut geht. Sie müssen die neue Autonomie durchdenken und situativ führen können. Um das Neue gestalten zu können, sollten sie sich mit den neuen technischen Möglichkeiten auskennen, ein paar Nasenlängen voraus sein und zum Beispiel wissen, wie das Team «papierlose Notizbücher» wie OneNote oder Evernote nutzen kann. Diese neuen Instrumente für sich selber zu nutzen, ist das eine – dann ersetzt man einfach das alte Instrument durch ein neues. Spannend wird es erst, wenn man sie als Team nutzt und plötzlich die Agenda im geteilten Notizbuch offen ist und jeder seine Punkte eintragen kann. Man sieht, was die anderen einbringen, und muss selber Mitverantwortung übernehmen. Dann ist die Technologie kein Ersatz mehr für etwas Bestehendes, sondern sie verändert die Zusammenarbeit grundsätzlich und ermöglicht etwas ganz Neues wie Mitsprache. Viele Firmen sind erst auf der Ebene «Substitution» – Home-Office statt Präsenz vor Ort, ein Skype-Meeting statt ein physisches Meeting – angekommen. Viel spannender ist es aber, die Zusammenarbeit grundlegend zu verändern, weil diese neuen Technologien erst dann den grössten Nutzen stiften.

Dank flexiblem Arbeiten sind die Mitarbeitenden weniger vor Ort. Wie muss man da die Kommunikation organisieren?

Physische Treffen braucht es weiterhin. Man soll aber eher weniger Meetings machen, dafür intensivere, wo man echt zusammenarbeitet. Heute sitzen die Leute oft einfach ihre Sitzungen ab. Grundsätzlich höre ich von vielen Firmen, die mobile Arbeit habe einen tollen Nutzen, die Leute würden ihre Fragen eher bündeln, statt mit jeder Frage direkt an den Teamkollegen zu gelangen. Viele sind überlastet, weil die ganze Zeit über irgendeinen Kanal Nachrichten reinkommen. Und in Open-Space-Büros laufen die ganze Zeit Leute an den Schreibtisch und stellen Fragen. Generell arbeiten reife Firmen eher hybrid, haben also nicht einen fixen Home-Office-Tag, sondern sie gestalten den Tag bewusster. Die Mitarbeitenden kommen nach dem grössten Morgen­verkehr ins Büro, ihre E-Mails haben sie zuvor schon zu Hause erledigt und konnten dafür mit ihrer Familie frühstücken. Am Nachmittag sind sie für Sitzungen vor Ort, gehen dann aber vor dem Abendstau wieder und arbeiten im Home-Office weiter.

«Die Entgrenzung ist ein Problem, wenn die Firmenkultur nicht gesund ist.»

Gilt das für alle Hierarchiestufen?

Ja, das haben die Firmen eingesehen. Man muss flexibles Arbeiten für alle möglich machen. Aber es ist klar, dass Chefs mit vielen Kunden­terminen mehr auswärts arbeiten, während etwa ein Sachbearbeiter mehr Schnittstellen vor Ort hat.

Der Transformationsprozess stellt die Unternehmen vor neue Herausforderungen. Was raten Sie ihnen?

Man soll die Nutzenfrage ins Zentrum stellen: Was können wir dank den neuen Möglichkeiten besser oder effizienter machen? Die Einführung von Home-Office oder Coworking ist per se noch kein Nutzen – erst wenn dadurch eine Verbesserung der Leistung entsteht, die auch der Kunde spürt, wird es spannend. Damit sich dieser gewünschte Effekt einstellt, ist eine gewisse Solidarität wichtig. Wenn Firmen neue Arbeitsformen einführen, mit dem Ziel, agiler zu werden, dabei aber das ganze Büro mit Regeln zupflastern, die jeden Funken an Unternehmer­geist ersticken, dann ist das kontraproduktiv. Genauso unsinnig ist es, wenn Mitarbeitende sich auf Jahre einen fixen Home-Office-Tag blockieren und null Flexibilität zeigen, wenn es darum geht, einen dringenden physischen Termin möglich zu machen. Leider sieht man genau diese Pattsituation in vielen Firmen. Die grosse Herausforderung ist daher zuerst einmal das «Abrüsten», und zwar auf beiden Seiten. Ich empfehle den Firmen ganz klar, hier den ersten Schritt zu tun, mit Vorschussvertrauen. Die grosse Mehrheit der Mitarbeitenden wird dies mit einem grösseren Engagement zurückzahlen.

Welchen Nutzen haben die Unternehmen denn von der digitalisierten Arbeitswelt?

Die Mitarbeitenden verhalten sich wie Mitunternehmer. Viele Firmen habe kein Nine-to-five-Business mehr und arbeiten in verschiedenen Zeitzonen. Dank neuen Technologien und Arbeitsformen können die Mitarbeitenden den Geschäftsverlauf besser unterstützen und werden motivierter. Dadurch wird auch die Kundenbeziehung besser. Der Kunde merkt, dass der Mitarbeiter nicht einfach Dienst nach Vorschrift macht.

Sie sehen in der Digitalisierung viele Chancen, gibt es auch Gefahren?

Das ist die Entgrenzung, dass die Leute Mühe haben, Arbeit und Privates so zu trennen, wie sie es sich wünschen. Ich höre oft, dass die Mitarbeitenden am Abend nach einem Bürotag denken, sie müssten reagieren, wenn eine Nachricht auf ihr mobiles Gerät kommt. Das heisst, es kommt mehr Arbeit dazu, statt dass man besser kombiniert. Die Entgrenzung ist umso mehr ein Problem, wenn die Firmenkultur nicht sehr gesund ist, wenn sich die Mitarbeitenden nicht trauen, dem Chef zu sagen: Ich mag jetzt nicht mehr, ich mache das morgen.

«Dank neuen Technologien und Arbeitsformen werden die Mitarbeitenden motivierter.»

Konzentriertes Arbeiten an frischer Luft vor schönstem Panorama dank dem Angebot von Alpine Coworking.

Digitalisierung und Arbeitswelt aus Sicht eines Psychologen

Die Leute brauchen mehr Sozialkompetenz

«Die Digitalisierung wird alles auf den Kopf stellen – auch die Arbeitswelt», sagt Andi Zemp. Der Psychologe, Coach und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Bern berät als Organisationsentwickler Unternehmen und die öffentliche Verwaltung.

Digitalisierung sieht er als «grosses gesellschaftliches Experiment», das Segen und Fluch zugleich sei. Auch wenn digitale Kommunikation zahllose Vorteile habe, stelle sich die Frage, ob der Prozess gesamtgesell­schaftlich von Nutzen sei. Chancen sieht Zemp vor allem für gut ausgebildete Personen, während alle anderen ins Hintertreffen geraten könnten. «Es werden immer mehr Leute abgehängt, davon bin ich überzeugt», sagt der Psychologe, der in seiner Praxis vor allem mit den Schattenseiten der neuen Arbeitswelt konfrontiert ist. «Die digitale Schere öffnet sich.» Manche würden mit dem Tempo der Veränderung nicht mehr mitkommen. Der Stress in der neuen Arbeitswelt habe zugenommen.

«Es ist besser zu lernen, das Smartphone abzustellen, als einen Achtsamkeitskurs zu machen.»

Andi Zemp, Psychologe, Coach und Psychotherapeut

«Sobald etwas läuft, wird man aufmerksam»

Kritisch sieht Zemp auch die dauernde Erreichbarkeit der Mitarbeitenden über mobile Geräte. Er höre in seiner Praxis oft die Aussage: Für mich wäre es einfacher, wenn ich am Abend keine Mails bekäme. Dass die Leute kaum widerstehen können, auch nach Feier­abend neue berufliche Nachrichten zu lesen, kann er nachvollziehen. «Sobald auf dem Gerät etwas läuft, wird man aufmerksam», das sei schwer zu ändern. Darum sei die vielleicht wichtigste Fähigkeit in Zeiten der Digitalisierung, dass man abschalten könne – im wahrsten Sinn des Wortes. «Es ist besser zu lernen, das Smartphone abzustellen, als einen Achtsamkeitskurs zu machen, ohne das Verhalten zu ändern.»

Das sieht Barbara Josef ähnlich. «Das Bewusstsein wird wichtiger», sagt sie. «Jeder muss selber herausfinden, was für ihn das Beste ist, und das im Team und mit seinem Vorgesetzten aus­handeln.» Im Gegensatz zu Zemp glaubt sie aber, das Bedürfnis nach Abgrenzung sei sehr unterschiedlich. «Manche empfinden es als Stress, wenn sie acht Stunden am Stück im Büro sein müssen und keinen Gestaltungsspielraum haben. Andere fühlen sich dagegen unwohl, wenn sie Arbeit mit nach Hause nehmen müssen.»

Barbara Josef hält gar nichts von der Massnahme, dass Unternehmen ihren Mailserver am Abend stoppen und ihren Angestellten keine Mails mehr zustellen: «Das ist eine Bevormundung und verkennt die Realität einer Arbeitswelt, die längst nicht mehr nine to five tickt. Viel wichtiger ist es, die Erwartungshaltung im Unternehmen transparent zu thematisieren.»

Neue Regeln der Zusammenarbeit gefordert

Andi Zemp hingegen sieht einen Mail-Zustellungsstopp am Abend als sinnvollen Weg, die Mitarbeitenden vor Überlastung zu schützen. Er kann sich eine Regelung vorstellen, die vorsieht, dass abends grund­sätzlich keine Mails zugestellt werden. Wer dies wünscht, soll aber durchaus davon abweichen und Nachrichten bekommen können.

Zemp gibt weiter zu bedenken, dass zur dauernden Erreichbarkeit auch die permanente Überwachbarkeit der Mitarbeitenden gehört. «Jeder Mausklick, jeder Tastaturanschlag kann vom Arbeitgeber registriert werden.» Vielleicht müsse man sich plötzlich rechtfertigen, weshalb man eine halbe Stunde die Maus nicht bewegt oder nichts in die Tasten getippt habe.

Unabhängig davon, ob man die neue Arbeitswelt eher positiv oder eher kritisch sieht, klar scheint: Es gibt kein Zurück. «Die Unternehmen und die Mitarbeitenden sind gefordert, neue Regeln der Zusammenarbeit auszuhandeln», sagt Barbara Josef.

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