«Die Menschen brauchen mehr Sozialkompetenz»

«Die Digitalisierung wird alles auf den Kopf stellen – auch die Arbeitswelt», sagt Andi Zemp. Der Psychologe, Coach und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Bern berät als Organisationsentwickler Unternehmen und die öffentliche Verwaltung.

Digitalisierung sieht er als «grosses gesellschaftliches Experiment», das Segen und Fluch zugleich sei. Auch wenn digitale Kommunikation zahllose Vorteile habe, stelle sich die Frage, ob der Prozess gesamtgesell­schaftlich von Nutzen sei. Chancen sieht Zemp vor allem für gut ausgebildete Personen, während alle anderen ins Hintertreffen geraten könnten. «Es werden immer mehr Leute abgehängt, davon bin ich überzeugt», sagt der Psychologe, der in seiner Praxis vor allem mit den Schattenseiten der neuen Arbeitswelt konfrontiert ist. «Die digitale Schere öffnet sich.» Manche würden mit dem Tempo der Veränderung nicht mehr mitkommen. Der Stress in der neuen Arbeitswelt habe zugenommen.

Andi Zemp ist Psychologe, Coach und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Bern und berät als Organisationsentwickler Unternehmen und die öffentliche Verwaltung.

«Es ist besser zu lernen, das Smartphone abzustellen, als einen Achtsamkeitskurs zu machen.»

Kritisch sieht Zemp auch die dauernde Erreichbarkeit der Mitarbeitenden über mobile Geräte. Er höre in seiner Praxis oft die Aussage: Für mich wäre es einfacher, wenn ich am Abend keine Mails bekäme. Dass die Leute kaum widerstehen können, auch nach Feier­abend neue berufliche Nachrichten zu lesen, kann er nachvollziehen. «Sobald auf dem Gerät etwas läuft, wird man aufmerksam», das sei schwer zu ändern. Darum sei die vielleicht wichtigste Fähigkeit in Zeiten der Digitalisierung, dass man abschalten könne – im wahrsten Sinn des Wortes. «Es ist besser zu lernen, das Smartphone abzustellen, als einen Achtsamkeitskurs zu machen, ohne das Verhalten zu ändern.»

Neue Regeln der Zusammenarbeit gefordert

Der Psychologe sieht einen Mail-Zustellungsstopp am Abend als sinnvollen Weg, die Mitarbeitenden vor Überlastung zu schützen. Er kann sich eine Regelung vorstellen, die vorsieht, dass abends grund­sätzlich keine Mails zugestellt werden. Wer dies wünscht, soll aber durchaus davon abweichen und Nachrichten bekommen können.

Zemp gibt weiter zu bedenken, dass zur dauernden Erreichbarkeit auch die permanente Überwachbarkeit der Mitarbeitenden gehört. «Jeder Mausklick, jeder Tastaturanschlag kann vom Arbeitgeber registriert werden.» Vielleicht müsse man sich plötzlich rechtfertigen, weshalb man eine halbe Stunde die Maus nicht bewegt oder nichts in die Tasten getippt habe.

Barbara Josef: Jeder muss seinen Weg selber finden

Barbara Josef ist ebenfalls der Meinung, dass Mitarbeitende mit den Veränderungen bewusst umgehen müssen. Als Expertin für die digitalisierte Arbeitswelt berät sie mit ihrem Unternehmen 5to9 Firmen im Transformationsprozess (siehe unten Hinweis auf Interview «Die wichtigste Fähigkeit der Chefs ist Loslassen»). «Jeder muss selber herausfinden, was für ihn das Beste ist, und das im Team und mit seinem Vorgesetzten aus­handeln», sagt sie. Im Gegensatz zu Zemp glaubt sie aber, das Bedürfnis nach Abgrenzung sei sehr unterschiedlich. «Manche empfinden es als Stress, wenn sie acht Stunden am Stück im Büro sein müssen und keinen Gestaltungsspielraum haben. Andere fühlen sich dagegen unwohl, wenn sie Arbeit mit nach Hause nehmen müssen.»

Barbara Josef hält gar nichts von der Massnahme, dass Unternehmen ihren Mailserver am Abend stoppen und ihren Angestellten keine Mails mehr zustellen: «Das ist eine Bevormundung und verkennt die Realität einer Arbeitswelt, die längst nicht mehr nine to five tickt. Viel wichtiger ist es, die Erwartungshaltung im Unternehmen transparent zu thematisieren.»

Unabhängig davon, ob man die neue Arbeitswelt eher positiv oder eher kritisch sieht, klar scheint: Es gibt kein Zurück. «Die Unternehmen und die Mitarbeitenden sind gefordert, neue Regeln der Zusammenarbeit auszuhandeln», sagt Barbara Josef.